Predigt am Ewigkeitssonntag, 26. November 2023

Sun, 26 Nov 2023 18:00:31 +0000 von Martin-Luther-Kirchengemeinde Ahlem

Predigttext:  2. Petrus 3,8-13

8 Ihr dürft aber eines nicht vergessen, meine Lieben: / Ein Tag ist für den Herrn wie tausend Jahre, / und tausend Jahre sind für ihn wie ein Tag. 
9 Der Herr zögert nicht, sein Versprechen zu erfüllen, / auch wenn einige das meinen. / Vielmehr hat er Geduld mit euch. / Denn er will nicht, dass jemand zugrunde geht. / Im Gegenteil: Er will, dass alle ihr Leben ändern. 
10 Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb. / Dann wird der Himmel in tosendem Lärm vergehen. / Die Himmelskörper werden im Feuer verglühn. / Und die Erde mit allem, was auf ihr lebt, / wird aufhören zu sein. 
11 Wenn alles auf diese Weise vergeht, / dann bedeutet das für euer Leben jetzt: / Es muss von Heiligkeit geprägt sein / und von der Ausübung des Glaubens. 
12 Wartet darauf, dass der Tag Gottes kommt. / Setzt alles daran, seine Ankunft zu beschleunigen! / An diesem Tag wird der Himmel im Feuer vergehen. / Und die Himmelskörper werden in der Gluthitze schmelzen. 
13 Doch dann erwarten wir / einen neuen Himmel und eine neue Erde, / wie Gott sie uns versprochen hat. / In ihnen wird Gerechtigkeit herrschen.

Liebe Gemeinde,

Es ist Mittagszeit, ich denke, die Postbotin oder der Postbote ist durch und mache mich auf zum Briefkasten. Ich öffne und sehe sofort den weißen Umschlag mit dem schwarzen Rand. Oh Gott, wieder ist jemand gestorben. Das ist keine berufliche Post, da hätte vorher der Bestatter angerufen, es muss jemand aus unserem Bekanntenkreis sein. Ich nehme den Umschlag und suche den Absender. Nur der Nachname einer Familie aus meiner alten Heimat, Karlsruhe. Ich mache schnell den Brief auf, die Mutter einer Freundin von uns ist gestorben. Jahrgang 1937, ok, sie ist 86 Jahre alt geworden. 

Sofort beginnt das Kopfkino. Der letzte Anruf liegt schon lange zurück, wir wussten nichts von einer Krankheit. Ist das ein Problem? Haben wir uns genug gekümmert? Wann haben wir uns zum letzten Mal gesehen. Mit welchen Worten sind wir auseinandergegangen? Fragen über Fragen.

Jetzt müssen wir dringend anrufen! Aber was erwartet uns? War es ein plötzlicher Tod? Oder musste sie lange leiden? Wie geht es unserer Freundin damit? Wie reagiert die kleine Tochter darauf?

Über dem Namen auf der Karte steht, was viele sagen: „Wir sind traurig, dass wir Dich verloren haben und dankbar, dass wir Dich haben durften“. Und darüber wiederum hat unsere Freundin einen Satz aus dem VaterUnser gestellt: „Dein Wille geschehe!“ Das hat mich beeindruckt. „Dein Wille geschehe“ - das klingt wie „ich erkenne an, dass Du, Gott, der Herr über Leben und Tod bist. Ich hätte meine Mutter noch gerne bei mir gehabt, aber ich nehme Leben und Tod aus deiner Hand“.

Viele von Ihnen, liebe Gemeinde, haben im vergangenen Kirchenjahr solche Briefe mit einem schwarzen Rand verschickt. Und viele von Ihnen haben einen oder mehrere davon im Briefkasten gehabt. 

Der Tod eines lieben Menschen bringt unser Leben durcheinander. Er ist ein tiefer Einschnitt. Diese absolute Endgültigkeit macht uns zu schaffen. Der Partner, die Partnerin, die Oma, der Opa, die Freundin der Freund - sie sind nicht mehr ansprechbar und geben keine Antwort mehr. Ich kann nichts mehr gerade rücken, kann meine Liebe nicht mehr zeigen. Und wer nicht den Trubel einer Familie um sich hat, kann einsam werden. Wie viele bittere Tränen fließen.

+++

Kurz nachdem ich den Trauerbrief aus dem Kasten geholt habe, krame ich in meinem Bücherregal, suche Texte, die passen könnten für den heutigen Sonntag. Ein kleiner Streifen aus Papier mit ein paar gedruckten Zeilen darauf fällt zu Boden, er muss in einem Buch gesteckt haben. Schon etwas bräunlich und mit altertümlicher Schrift. Ich hebe ihn auf, lese und halte die Luft an. Den Verfasser kenne ich: Angelus Silesius, er lebte von 1624 bis 1677, war Dichter, Theologe und Arzt. Er wird zu den Mystikern gezählt. Auf dem Zettel steht ein kleines Gedicht von Silesius:

Zwei Augen hat die Seel:
 Eins schauet in die Zeit,
 Das andre richtet sich
 Hin in die Ewigkeit.

Wow! Ich weiß ja nicht, vielleicht bin ich besonders anfällig für mystische Gedichte aus der Barockzeit. Aber dieser Zufallsfund, der mir da bei der Vorbereitung des Ewigkeitssonntags vor die Füße geflattert ist, hat mich erst mal verstummen lassen. 

Ja, das macht doch unser Christsein aus: Wir weichen der Zeit nicht aus, wir stellen uns den Herausforderungen, wir nehmen wahr, was um uns herum geschieht.

Gleichzeitig richten wir unseren Blick in die Ewigkeit. Wir müssen das, was da kommt, gar nicht so ausmalen, wie unser Predigttext das tut. „Dann wird der Himmel in tosendem Lärm vergehen. / Die Himmelskörper werden im Feuer verglühn.“ Mag sein, stimmt sogar in ein paar Millionen Jahren, wenn unsere Sonne kollabiert.

Entscheidend ist der letzte Satz unseres Textes: „dann erwarten wir / einen neuen Himmel und eine neue Erde, / wie Gott sie uns versprochen hat. / In ihnen wird Gerechtigkeit herrschen.“ 

Alles wird neu! So wie es in der Offenbarung des Johannes heißt: „und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“ Darin liegt unsere Hoffnung.

Sind Christinnen und Christen wegen dieser Hoffnung weltfremd, fliehen sie aus der Realität?

Nein. Darin liegt für mich gerade die Faszination des Gedichtes von Silesius: ZWEI Augen hat die Seel. Diese schauen gleichzeitig in die Zeit und in die Ewigkeit. Silesius hat das selbst gelebt: In seinen letzten Jahren lebte er als Arzt für Arme und Kranke im Matthiasstift in Breslau. Er verschenkte sein gesamtes Vermögen, sorgte für die Ausbildung von Waisenkindern und behandelte als Arzt unentgeltlich mittellose Patienten.

Liebe Gemeinde, der Tod eines lieben Menschen bringt unser Leben durcheinander und ist ein tiefer Einschnitt. Manche brauchen lange, um wieder lebensfroh zu werden. Das Gedicht von Angelus Silesius kann uns helfen, die Orientierung zu bewahren, die Orientierung auf den, der einen neuen Himmel und eine neue Erde machen wird. 

Zwei Augen hat die Seel:
 Eins schauet in die Zeit,
 Das andre richtet sich
 Hin in die Ewigkeit.

Amen.


 
Dr. Johannes Neukirch, Predigt am 26.11.2023 in Ahlem
Bestätigen

Bist du sicher?