Liebe Gemeinde,
die Sonntage in der Passionszeit haben alle einen Namen. Dieser ist das jeweils erste Wort aus dem so genannten Introitus, einem gesungenen Vers zu Beginn des Gottesdienstes.
Unser heutiger Sonntag heißt „Reminiszere“, das ist das erste Wort aus der lateinischen Version von Psalm 25 Vers 6, und heißt übersetzt „Gedenke“. Der ganze Vers lautet: „Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“
Wir haben ja vorhin den Psalm 25 im Wechsel gesprochen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen dabei ergangen ist, ob die Worte des Psalmdichters persönlich zu Ihnen gesprochen und ihre Lebenssituation getroffen haben.
„Nach dir, Herr, verlanget mich. Mein Gott, ich hoffe auf dich; laß mit nicht zuschanden werden.“ heißt es da zum Beispiel. Oder: „Wende dich zu mir und sei mir gnädig; denn ich bin einsam und elend. Die Angst meines Herzens ist groß; führe mich aus meinen Nöten! Sieh an meinen Jammer und mein Elend und vergib mir alle meine Sünden! Laß mich nicht zuschanden werden, denn ich traue auf dich!“
Unzählige Menschen klammern sich zur Zeit an diesen oder ähnlichen Worten fest. Weil sie Krieg und Gewalt erleiden, weil sie hungern, weil es um ihr Leben oder um das Leben ihrer Angehörigen geht. Unzählige Menschen hoffen darauf, dass der Alptraum ein Ende findet.
Mitten in diesen Hilferufen steht der Reminiscere-Vers: „Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“
Gedenke, Herr, unser Gott! Das ist weniger eine Bitte oder ein Hilferuf an Gott, es ist eine Aufforderung, ein Appell.
Ein Appell an Gott - aber müssen wir denn Gott an seine Barmherzigkeit und Güte erinnern? Kann er vergessen, wie er ist? Barmherzigkeit und Güte sind zweifellos Eigenschaften von Gott. Als Mose auf dem Berg Sinai ist und die beiden Tafeln mit den Zehn Geboten in der Hand hat, ging Gott vor ihm vorüber. Mose ruft »HERR, HERR, Gott! Du bist reich an Barmherzigkeit und Gnade, unendlich geduldig und voller Güte und Treue.“
Unser Psalmbeter hat offensichtlich das Gefühl, dass er Gott daran erinnern muss, wie er eigentlich ist! Da muss er ziemlich verzweifelt gewesen sein.
Wie geht das mit der Barmherzigkeit? Was ist das eigentlich?
Ich probiere es erst einmal vom Gegenteil her. Wir können uns gut vorstellen oder haben es vielleicht auch immer wieder mal erfahren, dass jemand unbarmherzig oder hartherzig ist. Wobei es interessant ist, dass das niemand einfach so für sich allein ist. Es geht immer um eine Beziehung. Jemand ist unbarmherzig einem anderen gegenüber, in einer bestimmten Situation.
Nehmen wir die berühmte Geschichte vom barmherzigen Samariter. Da liegt einer halbtot im Graben. Zwei Männer kommten an die Stelle, sehen den Verletzten da liegen und gehen vorbei. Vielleicht sind das ansonsten liebe nette Menschen, die ab und zu auch mal barmherzig sind, aber in diesem Augenblick der Begegnung sind sie unbarmherzig, hartherzig, warum auch immer. Und der Samariter, der sich kümmert, ist genau in dieser Situation, in der Begegnung mit dem Verletzten, barmherzig. Es jammerte ihn, schreibt Lukas. Wie er sonst ist, wissen wir nicht.
Ich vermute, dass wir alle solche Momente kennen, in denen wir sagen, nein, jetzt kann ich diesem Menschen nicht auch noch helfen, nun ist gut. Wir können nun mal nicht grenzenlos barmherzig sein. Genau so kennen wir Momente, in denen wir sagen, gut, da helfe ich jetzt, da spüre ich, wie mir das Herz aufgeht.
Vielleicht können wir so sagen: Wenn Menschen unbarmherzig sind, dann ziehen sie Grenzen oder stehen vor Grenzen, die sie nicht überwinden können. Dann sind sie an einem Punkt, an dem es einfach nicht mehr weitergeht.
Und andersherum: Wenn Menschen barmherzig sind, dann überschreiten sie Grenzen, dann gehen Türen auf, entstehen Beziehungen, Verbindungen, neue Wege, dann ist Hoffnung sichtbar.
Wenn wir uns mal die Keramik in der Taufecke anschauen, dann sehen wir lauter offene Türen und Bewegung und Menschen, die sich begegnen. Jemand kocht und teilt Essen aus, jemand öffnet die Tür zur Kleiderkammer, jemand fährt einen Kranken spazieren usw. usf.
Es geht immer um eine Beziehung – niemand ist für sich allein barmherzig oder unbarmherzig.
Das können wir auf die Barmherzigkeit Gottes übertragen. „Barmherzigkeit“ ist nicht einfach da und wird von Gott ausgeteilt und kann von uns benutzt werden. Gottes Barmherzigkeit meint, dass er etwas mit uns zu tun haben will. Er zieht sich nicht zurück, er bleibt in der Beziehung zu uns. Barmherzigkeit geschieht im Miteinander.
Wir sehen das daran, dass er seinen Sohn Jesus Christus zu uns geschickt hat. Wir merken das daran, dass er uns als seine Kinder annimmt. Wir erfahren das darin, dass er uns unsere Schuld vergibt. Und diese Geschichte Gottes mit uns ist ja in unserem Gottesdienst heute ganz konkret erlebbar geworden als wir vorhin Laurin und Lenny getauft haben! Ihr beide habt heute Geschichte geschrieben.
Liebe Gemeinde,
Ich finde es sehr ermutigend, dass der Psalmbeter sich so direkt und unverblümt an Gott wendet und ihn an seine Beziehung zu uns erinnert. „Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“ Denn wer so zu Gott spricht, der glaubt fest daran, dass sich Gott bewegen lässt, dass es ihn jammert, wie es uns Menschen geht. Er hofft, dass er unsere Gebete hört, auch wenn er darauf nicht immer so reagiert, wie wir uns das vorstellen.
Entscheidend ist: Gott lässt sich etwas sagen, wir dürfen an ihn appellieren, ihn geradezu herausfordern. Er lässt sich daran erinnern, wie ein guter Vater und eine liebende Mutter zu sein – barmherzig! Und er nimmt uns in seine Geschichte mit hinein, auf dass wir Barmherzigkeit üben.
Amen.
Dr. Johannes Neukirch, Predigt im Gottesdienst in Ahlem am 5. März 2023