Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis, 20. Oktober 2024

Sun, 20 Oct 2024 22:14:25 +0000 von Martin-Luther-Kirchengemeinde Ahlem

Predigttext:  Matthäus 5,38–48

38 »Ihr wisst, dass gesagt worden ist: ›Auge für Auge und Zahn für Zahn!‹
39 Ich sage euch aber: Wehrt euch nicht gegen Menschen, die euch etwas Böses antun! Sondern wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch deine andere Backe hin! 
40 Wenn dich jemand verklagen will, um dein Hemd zu bekommen, dann gib ihm noch deinen Mantel dazu!
41 Wenn dich jemand dazu zwingt, seine Sachen eine Meile zu tragen, dann geh zwei Meilen mit ihm!
42 Wenn dich jemand um etwas bittet, dann gib es ihm!  Und wenn jemand etwas von dir leihen will, dann sag nicht ›Nein‹.«
43 »Ihr wisst, dass gesagt worden ist: ›Liebe deinen Nächsten‹ und hasse deinen Feind!
44 Ich sage euch aber: Liebt eure Feinde! Betet für die, die euch verfolgen!
45 So werdet ihr zu Kindern eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über bösen und über guten Menschen. Und er lässt es regnen auf gerechte und auf ungerechte Menschen.
46 Denn wenn ihr nur die liebt, die euch auch lieben: Welchen Lohn erwartet ihr da von Gott? Verhalten sich die Zolleinnehmer nicht genauso?
47 Und wenn ihr nur eure Geschwister grüßt: Was tut ihr da Besonderes? Verhalten sich die Heiden nicht genauso?
48 Für euch aber gilt: Seid vollkommen, so wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!«

Liebe Gemeinde,
niemand ist vollkommen – diesen Satz hat wahrscheinlich jede und jeder von Ihnen schon mal gesagt. Wenn irgendetwas schief gegangen ist, wenn jemand mal etwas ganz Einfaches gerade nicht weiß, wenn jemand nicht so reagiert hat, wie es gut gewesen wäre. Niemand ist vollkommen – manchmal benutzen wir diesen Satz ironisch oder mit einem Lächeln auf den Lippen, aber eigentlich ist das ein barmherziger Satz. Er sagt doch: Schraub deine Ansprüche nicht zu hoch, wir sind alle Menschen, die Fehler machen, die nicht perfekt sind.

„Für euch aber gilt“, heißt es aber nun in dem letzten Vers unseres Textes aus der Bergpredigt Jesu, „Seid vollkommen, so wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“

Meine Güte, ich bemühe mich doch, ein ordentliches Leben zu führen, sagen Sie jetzt wahrscheinlich zu Recht. Ich lebe friedlich, ich habe keine oder nur wenige Feinde, nur diesen Nachbarn, der so blöd über mich redet, ich liebe meine Familie und meine Freunde, ich spende ab und zu etwas für Notleidende, ich besuche meine kranke Nachbarin, ich setze mich vielleicht sogar für Frieden und Gerechtigkeit ein, und schließlich bin ich sogar in die Kirche zum Gottesdienst gekommen! Wer will denn noch mehr von mir?

Ich tue, was ich kann, aber selbstverständlich gilt jeden Tage aufs Neue: Niemand ist vollkommen. Das ist nun mal so. Nur Gott ist vollkommen, wir Menschen sind unvollkommen. Das sieht man auch an den anderen Forderungen der Bergpredigt: Zu dem Gebot „Du sollst nicht töten“ sagt Jesus: „Ich sage euch aber: Schon wer auf seinen Bruder oder seine Schwester wütend ist, gehört vor Gericht.“ – „Wer ›Idiot‹ sagt, der gehört ins Feuer der Hölle.“ Das ist unerfüllbar. Wir sind eben Menschen und nicht der Sohn Gottes, der vollkommen ist.

Zum Glück sagt Jesus übrigens nicht, „ihr seid  verloren, wenn ihr das alles nicht erfüllt“. Aber :
Trotzdem bleibt da ja doch ein kleiner Stachel, der uns in der Seele piekst. Geht da vielleicht doch noch mehr? Sollten wir vielleicht ganz andere Menschen sein als die, die wir sind?

Ich denke, wenn wir uns einfach nur vornehmen, mehr zu tun, mehr zu leisten, besser zu sein, perfekt zu werden – dann geht das schief. Das ist eine Überforderung.

Aber vielleicht können wir ja unsere innere Einstellung, unsere Orientierung, unsere Sicht auf die Welt ändern?

Ich nehme mal einen Vers heraus: „Ich sage euch aber: Liebt eure Feinde! Betet für die, die euch verfolgen!“ Das ist doch etwas, was wir durchaus tun können. Es meint ja nicht, dass wir unsere Feinde lieben sollen wie unsere Partnerin oder unseren Partner oder wie die Familie und Freunde. Es geht nicht um Emotionen. Jesus sagt: Betet für die, die euch verfolgen! Kann man ja machen. Es setzt aber voraus, dass wir es überhaupt in unserem Kopf zulassen, dass wir für unsere Feinde etwas Gutes tun könnten. Wenn wir für unsere Feinde beten, dann gelten die üblichen Grenzen „Da Freund / da Feind“ nicht mehr. Ein Freund von mir sagte immer: „Wer mein Feind ist, bestimme ich!“

Dass die üblichen Grenzen bei Gott nicht gelten, sagt Jesus im nächsten Satz unseres Textes: „So werdet ihr zu Kindern eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über bösen und über guten Menschen. Und er lässt es regnen auf gerechte und auf ungerechte Menschen.“

Das müssen wir erst mal verdauen. Gott zieht die Grenzen offensichtlich anders als wir das tun. Er will für ALLE Menschen Gutes. Er hat eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit als wir. Unsere Einteilung in Freund/Feind gelten für ihn nicht. 

Wenn wir diese Orientierung an Gott mitgehen, dann erscheinen uns die Forderungen aus den anderen Versen unseres Textes gar nicht mehr so lebensfremd: 
Wehrt euch nicht gegen Menschen, die euch etwas Böses antun! Sondern wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch deine andere Backe hin! 
40 Wenn dich jemand verklagen will, um dein Hemd zu bekommen, dann gib ihm noch deinen Mantel dazu!
41 Wenn dich jemand dazu zwingt, seine Sachen eine Meile zu tragen, dann geh zwei Meilen mit ihm!
42 Wenn dich jemand um etwas bittet, dann gib es ihm!  Und wenn jemand etwas von dir leihen will, dann sag nicht ›Nein‹.«

Das wäre doch mal eine andere Methode: Wir verzichten auf die Durchsetzung unseres Rechts oder unserer Ehre. Wir überschreiten die alltäglichen, scheinbar natürlichen Grenzen und lassen andere Regeln gelten. Wenn dich jemand zwingt, seine Sachen eine Meile zu tragen, dann geh zwei Meilen mit ihm. Warum nicht?
„Und wenn ihr nur eure Geschwister grüßt:“, sagt Jesus, „Was tut ihr da Besonderes?“ Genau - grüß einfach alle! 

Der Theologe Pinchas Lapide hat diese Methode als „Entfeindung“ bezeichnet. Schritt für Schritt werden die Grenzen zwischen Freund und Feind aufgehoben. 

Und so etwas gibt es, ein Beispiel: In einer Doku wurde über Initiativen berichtet, in denen Palästinenser und Israelis das Gespräch miteinander suchen und ganz praktisch „Entfeindung“ einüben, indem sie einander erzählen, was sie erlebt haben.

Liebe Gemeinde, ja, ich weiß, das lässt sich nicht immer und nicht immer so einfach verwirklichen. Aber dieser Satz, dass Gott seine Sonne gleichermaßen über bösen und guten Menschen aufgehen lässt, und dass er regnen lässt auf gerechte und ungerecht Menschen – dieser Satz zeigt mir, dass sich etwas in unserem Kopf, in unserer Einstellung ändern kann. Jesus zeigt in unserem Text ein paar Beispiele, wie wir an seiner Vollkommenheit teilhaben können. Nein, wir werden nie vollkommen, aber wir können um-denken, neu denken, uns neu auf Gott und seine grenzenlose Liebe einlassen. Denn wir sind Kinder Gottes, von ihm angenommen und geliebt.

Dr. Johannes Neukirch, Predigt am 20.10.2024 in der Martin-Luther-Kirche Ahlem
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