Lukas 13,10-17
Liebe Gemeinde,
vor kurzem waren meine Frau und ich in einem Museum, das die Vorgeschichte der Menschheit zeigt. Staunend gingen wir durch Hunderttausende Jahre. Vom Beginn der Steinzeit über die Eisenzeit bis zum Mittelalter und frühen Neuzeit. Und wir sahen, wie sich die Urmenschen immer wieder auf neue Herausforderungen einstellen mussten und sich die Eigenschaften der Menschen ausbildeten. Körperliche Ausdauer, geistige Beweglichkeit, Gestaltungskraft, Verhalten in der Gemeinschaft. Vieles von unserem menschlichen Verhalten heute hat hier seine Wurzeln. Immer neue Lebensräume haben sich die ersten Menschen erschlossen. Sie entwickelten Techniken und Taktiken, um sich zu ernähren, zu wärmen und ihr Wissen und Können auszutauschen. Sie begannen, sich von der Natur unabhängig zu machen. Und sie legten damit die Grundlagen menschlicher Kultur. Eine sehr frühe Art der Menschenaffen wird „homo erectus“, also „aufgerichteter Mensch“ genannt. Daraus entwickelte sich der Homo sapiens und daraus der moderne Mensch. Der homo erectus, der aufgerichtete Mensch, benutzte das Feuer, ging auf die Jagd und konnte wie ein moderner Mensch laufen.
Es ist spannend zu sehen, wie sich das alles über tausende Jahre entwickelt hat. Der aufgerichtete Mensch ist dabei wie ein Sinnbild: So als könnten wir an ihm sehen, wie es in der Menschheitsgeschichte weitergeht: Aufgerichtet, selbstbewusst, individuell, frei.
Leider gab und gibt es parallel dazu auch eine andere Entwicklung: Menschen unterdrücken andere Menschen, halten sie klein, versklaven sie, foltern, töten, wollen über sie herrschen. Einerseits durch physische Gewalt, aber auch durch böse Worte.
Warum ist das so? Können wir nicht als aufgerichtete, freie Menschen miteinander auskommen? Offensichtlich nicht. Konnten wir noch nie. Werden wir es schaffen?
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ - so heißt es im 1. Artikel der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, nach zwei furchtbaren Weltkriegen. Ist das irgendwo hundertprozentig realisiert? Ich fürchte nicht.
Warum ist das so? Vor 2000 Jahren, zur Zeit Jesu, haben die Menschen mit dem Satan, gerechnet. Der war für das Böse verantwortlich. Auf jeden Fall können wir so weit mit dieser Vorstellung mitgehen, dass wir sagen: Es gibt so etwas wie einen guten Geist und so etwas wie einen bösen Geist, der unter Menschen wirkt.
Wichtig ist: Wir haben in der Bibel klare Aussagen darüber, wie es sein soll: Wir sollen als aufrechte freie Menschen leben, die niemanden unterdrücken, sondern im Geiste der Nächstenliebe leben.
Wie kommen wir dahin? Die Bibel sagt, dass Jesus die Macht des Bösen gebrochen hat. In unserem Predigttext sehen wir das:
10 Als Jesus einmal am Sabbat in einer der Synagogen lehrte, 11 war dort eine Frau. Seit achtzehn Jahren wurde sie von einem Geist geplagt, der sie krank machte. Sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr gerade aufrichten.
12 Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte zu ihr:
»Frau, du bist von deiner Krankheit befreit!«
13 Und er legte ihr die Hände auf.
Sofort richtete sie sich auf und lobte Gott.
14 Aber der Leiter der Synagoge ärgerte sich darüber, dass Jesus die Frau an einem Sabbat heilte. Deshalb sagte er zu der Volksmenge: »Es gibt sechs Tage, die zum Arbeiten da sind. Also kommt an einem dieser Tage, um euch heilen zu lassen – und nicht am Sabbat!«
15 Doch der Herr sagte zu ihm: »Ihr Scheinheiligen! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Futterkrippe los und führt ihn zur Tränke?
16 Aber diese Frau hier, die doch eine Tochter Abrahams ist, hielt der Satan gefesselt – volle achtzehn Jahre lang!
Und sie darf am Sabbat nicht von dieser Fessel befreit werden?«
17 Als Jesus das sagte, schämten sich alle seine Gegner. Doch die ganze Volksmenge freute sich über die wunderbaren Taten, die Jesus vollbrachte.
Sie konnte sich wieder aufrichten! Eine verkrümmte Frau wurde nicht beachtet, wahrscheinlich sogar verachtet. Wer weiß, warum sie so einen krummen Rücken hat .... Jesus fragt nicht nach Gründen. Er sieht sie, er beachtet sie, er hilft ihr, er berührt sie und legt ihr die Hände auf! Er richtet sie auf.
Was für ein Erlebnis! Und es ging ja nicht nur um ihren Rücken. Ihr ganzes Leben richtete sich auf. Das sehen wir an ihrer Reaktion: „Sofort richtete sie sich auf und lobte Gott!“ Interessant ist übrigens, dass sie nicht Jesus lobt, den Wundertäter, sondern Gott. Sie merkt offensichtlich, dass in Jesus Gott selbst wirkt.
Und kaum ist sie geheilt, versucht schon wieder jemand, die Situaton und Jesus und die Frau runterzudrücken. »Es gibt sechs Tage, die zum Arbeiten da sind. Also kommt an einem dieser Tage, um euch heilen zu lassen – und nicht am Sabbat!« Meine Güte, er sollte sich doch einfach freuen, dass es der Frau wieder gut geht.... Aber so ist das. Auch Gesetze und Regeln können Menschen klein halten. Auch manche, die uns als christliche vorgehalten werden.
Gottes Herrschaft richtet auf und befreit. Sie löst Fesseln. Das hat uns Jesus, in dem Gott wirkt, gezeigt. Wir hoffen darauf, dass der Heilige Geist unter uns wirkt und uns aufrichtet. Und wir können etwas tun.
Mich hat diese Geschichte an eine andere erinnert, die im Hier und Heute spielt.
Für Behinderte überalll auf der Welt - mit Unterschieden selbstverständlich - ist das Leben oft schwer. Sie haben nicht nur mit vielen Schwierigkeiten, sondern auch mit Beleidungen und Vorurteilen zu kämpfen. Im Senegal z.B. werden sie nicht als vollwertige Menschen angesehen und oft daheim versteckt. Das war bei uns ja auch lange nicht viel anders.
Ich habe einmal einen Erfahrungsbericht gelesen, der mich sehr berührt hat. Es geht um Menschen, die Rollstühle und andere Hilfsmittel nach Afrika transportieren. Sie berichteten, welche Lebensfreude plötzlich Kinder und Erwachsene bekamen, als sie nicht mehr auf dem Boden leben mussten, sondern plötzlich aufgerichtet wurden, im Rollstuhl höher sitzen konnten, an Krücken gehen konnten. Ihr Leben hat sich gedreht und aufgerichtet.
Jesus hat die Frau gesehen, angerührt und geheilt. Das gibt uns Hoffnung darauf, dass sich die Herrschaft Gottes durchsetzen wird. In dieser Hoffnung können wir Menschen sehen, berühren und zu ihrer Heilung beitragen. Und dabei lassen wir uns nicht von unsinnigen Regeln unterdrücken.
Dr. Johannes Neukirch, Predigt in der Martin-Luther-Gemeinde Ahlem am 18.8.2024