Predigt aus dem Gottesdienst am 10. Sonntag nach Trinitatis, 21. August 2022

Mon, 22 Aug 2022 19:48:42 +0000 von Martin-Luther-Kirchengemeinde Ahlem

Matthäus 5,17-20, Den Willen Gottes im Gesetz ganz ernst nehmen (Übersetzung der Basisbibel)

17 »Denkt ja nicht, ich bin gekommen, um das Gesetz und die Propheten außer Kraft zu setzen. Ich bin nicht gekommen, um sie außer Kraft zu setzen, sondern um sie zu erfüllen.
18 Amen, das sage ich euch: Solange Himmel und Erde bestehen, wird im Gesetz kein einziger Buchstabe und kein Satzzeichen gestrichen werden. Alles muss geschehen, was Gott geboten und verheißen hat. 
19 Keines der Gebote wird außer Kraft gesetzt, selbst wenn es das unwichtigste ist. Wer das tut und es andere Menschen so lehrt, der wird der Unwichtigste im Himmelreich sein. Wer die Gebote aber befolgt und das andere so lehrt, der wird der Wichtigste im Himmelreich sein.
20 Denn ich sage euch: Eure Gerechtigkeit muss größer sein als die der Schriftgelehrten und Pharisäer. Sonst werdet ihr niemals in das Himmelreich kommen.« 

Liebe Gemeinde,

ich gehe ganz gerne zu Fuß von unserem Haus zur Kirche, das ist ein schöner Spaziergang. Seit ungefähr einer Woche ist eine Baustelle auf meinem Weg. Ein Maurer pflastert den Vorplatz vor einer Garage. Seit Beginn der Arbeiten ist am Rand zum Gehweg eine Richtschnur gespannt. Das ist ein ganz einfaches, aber sehr wichtiges Hilfsmittel auf dem Bau. Zwischen zwei Stöcken wird eine Schnur straff gespannt. So entsteht eine Gerade, an der sich die Bauarbeiter orientieren können. Nur so bekommen die Pflastersteine des Vorplatzes einen ordentlichen geraden Abschluss zum Gehweg hin.

Die Richtschnur kennen wir auch im übertragenen Sinn: Laut Duden ist sie eine allgemeingültige Wertvorstellung, woran jemand sein Handeln und Verhalten ausrichtet. Anders gesagt: Die Richtschnur meines Lebens zeigt mir, wo es lang geht.

In der Regel gibt es nun diverse Richtschnüre nach denen wir unser Leben ausrichten. Einige erscheinen uns selbstverständlich wie zum Beispiel Ehrlichkeit oder Freundlichkeit oder Fleiß. Einige sind durch die Religion oder Philosophie oder Weltanschauung bestimmt, der jemand anhängt.

Für das Judentum ist vor allem der erste Teil der hebräischen Bibel, die Thora, auch bekannt als die fünf Bücher Mose, eine solche Richtschnur für das Leben. Die Thora enthält 248 Gebote und 365 Verbote, sie ist also sozusagen ein Gerüst aus insgesamt 613 Anweisungen für ein korrektes religiöses Verhalten. Am wichtigsten sind die Zehn Gebote, die ja für die ganze Menschheit ein Maßstab sein sollten. Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst den Feiertag heiligen, du sollst deinen Vater und Mutter ehren, du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten und so weiter.

Diese Richtschnur, oder vielleicht besser gesagt: diese vielen Richtschnüre meint Jesus in unserem Text, wobei er die Prophetenbücher dazu nimmt. „Denkt ja nicht, ich bin gekommen, um das Gesetz und die Propheten außer Kraft zu setzen.“ sagt Jesus, „Ich bin nicht gekommen, um sie außer Kraft zu setzen, sondern um sie zu erfüllen.“ Es wird nichts gestrichen, kein Buchstabe, kein Satzzeichen.

So kennen wir Jesus gar nicht. Jesus hat doch seine eigene Lehre, denken wir, und er hat darüber ja oft mit den Religionsfachleuten seiner Zeit diskutiert und gestritten. Es ging immer wieder darum, wie das Gesetz verstanden werden soll. Ein kleines Beispiel für diese Auseinandersetzungen ist die Geschichte vom Ährenraufen am Sabbat. Jesus  ging mit seinen Jüngern am Sabbat, am Ruhetag, durch ein Kornfeld, die hatten Hunger, rauften Ähren aus und aßen sie. Die Pharisäer machten Jesus darauf aufmerksam, dass das am Sabbat nicht erlaubt sei. Er antwortet: „»Gott hat den Sabbat für den Menschen gemacht, nicht den Menschen für den Sabbat.“ Und als er einen Menschen am Sabbat von einer Krankheit heilt - ebenfalls verbotene Arbeit am Ruhetag - da fragt Jesus: »Was ist am Sabbat erlaubt? – Gutes tun oder Böses? Soll man einem Menschen das Leben retten oder ihn umkommen lassen?«

Und trotzdem sagt er in unserem Text: „Keines der Gebote wird außer Kraft gesetzt, selbst wenn es das unwichtigste ist.“
Wie ist das zu verstehen? 

Ich denke, Jesus will damit sagen: Ich stehe zu der Thora, denn in dem Wort Gottes sehen und erkennen wir Gottes Willen. Deshalb ist die Thora so wichtig und heilig und unantastbar. Jesus betont das so, weil ihm immer wieder vorgeworfen worden ist, dass er sich nicht an die Thora halte und sie missachte, sie vielleicht sogar für überflüssig halte.

Die eben genannten Beispiele vom Ährenraufen und der Heilung am Sabbat zeigen aber: Jesus hebt ja das Gesetz – in diesem Fall das Ruhegebot am Sabbat – nicht auf. Jesus sucht nach dem tiefen Sinn aller dieser Gebote und Verbote. Er fragt nach der dicken straff gespannten Richtschnur und hat den Anspruch, sie richtig zu setzen. Er sucht nach Gerechtigkeit und dem Willen Gottes mitten in all den Geboten und Verboten und stachelt seine Zuhörerinnen und Zuhörer sogar an, wenn er sagt: „Eure Gerechtigkeit muss größer sein als die der Schriftgelehrten und Pharisäer. Sonst werdet ihr niemals in das Himmelreich kommen.“

Diese Frage nach Gerechtigkeit, nach der Erfüllung des Willens Gottes, ist uns ja nicht fremd. Denken Sie nur daran, dass wir jetzt vielleicht neue Gesetze brauchen, die im Winter regeln, wer wie viel Gas bekommt und wer wie viel für die Energie bezahlen muss. Und da gibt es sehr viel zu bedenken und zu diskutieren und zu streiten. Ganz von alleine taucht die Frage nach einer Richtschnur auf.  Was leitet uns? Kümmert euch umeinander, seid solidarisch, die Reichen sollen  die Schwachen und Armen stützen. Unsere Diakonie, sozusagen die Fachabteilung der evangelischen Kirchen für Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft, meldet sich andauernd dazu zu Wort und überprüft die Richtschnur. Ob das die Medien immer wiedergeben, ist eine andere Frage. 

Gesetze, in denen sich die Frage nach Gerechtigkeit stellt,  gibt es in unserem Land viele. Kann man so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt finden bzw. herstellen?

Wir sollen den Willen Gottes suchen und ernst nehmen. Das lese ich aus unserem Predigttext. Das bedeutet, dass wir danach suchen sollen, was der Sinn des Gesetzes ist, was Gott eigentlich von uns will, was die große Richtschnur ist. Matthäus gibt darauf die folgende Antwort (wir haben sie als Lesung in der Version von Markus vorhin schon gehört): 

Einer von den Schriftgelehrter fragte Jesus:  »Lehrer, welches Gebot im Gesetz ist das größte?« Jesus antwortete: »›Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken.‹

Dies ist das größte und wichtigste Gebot. Aber das folgende Gebot ist genauso wichtig: ›Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.‹  Diese beiden Gebote fassen alles zusammen, was das Gesetz und die Propheten von den Menschen fordern.«

Beide Antworten Jesu, beide Gebote, sind wörtliche  Zitate aus der Thora! Im Liebesgebot treffen sich also Juden- und Christentum. „ Du sollst Gott lieben“ und „Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst“ sind für alle  die Richtschnur schlechthin. Sie richten unser Leben aus und zeigen Gottes Willen.

Dazu zum Schluss eine kleine Geschichte.  Ein Rabbi fragte seine Schüler, wann der Tag beginnen würde. Der erste sagte: „Beginnt der Tag, wenn ich von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“ – „Nein“, sagte der Rabbi. „Dann beginnt der Tag, wenn ich von weitem einen Dattelbaum von einem Feigenbaum unterscheiden kann“, sagte der zweite Schüler. Der erntete wieder ein Nein. „Aber wann beginnt der Tag?“, fragten die Schüler. Der Rabbi antwortete: „Der Tag beginnt, wenn Du in das Gesicht eines Menschen blickst und darin Deine Schwester oder Deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“

Dr. Johannes Neukirch, Predigt im Gottesdienst am 10. Sonntag nach Trinitatis,  21.8.2022, in Ahlem
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