Predigt aus dem Gottesdienst am 13. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2022

Sun, 18 Sep 2022 16:17:46 +0000 von Martin-Luther-Kirchengemeinde Ahlem

Die Frage nach dem ewigen Leben. Der barmherzige Samariter, Lukas 10,25-37
25 Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?   
27 Er antwortete und sprach: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst" (5.Mose 6,5; 3.Mose 19,18).
28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?
30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.
31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber.
32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.
33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn;
34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.
35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.
36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?
37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
 
Liebe Gemeinde,

sechs Berliner Zimmerleute haben im Jahr 1888 über Erste Hilfe nachgedacht. Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Fabriken und auf Baustellen viele schwere Unfälle, Arbeitsschutz und Unfallversorgung waren damals nicht üblich. Ende November 1888 luden die Zimmerleute zum ersten „Lehrkursus für Arbeiter über die Erste Hilfe bei Unglücksfällen" ein. 100 Arbeiter ließen sich daraufhin von einem Arzt in Erster Hilfe schulen. Aus diesen Kursen entstand nach und nach der Arbeiter-Samariter-Bund, ASB. Heute ist der ASB eine der größten Hilfs- und Wohlfahrtsorganisationen Deutschlands mit über 1,1 Millionen Mitgliedern, rund 33.000 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und über 14.000 Freiwilligen.

Arbeiter-Samariter-Bund – in dem Namen steckt unsere Geschichte vom barmherzigen Samariter. An diesem Beispiel sehen wir, wie wirksam diese Erzählung war und ist, eine der bekanntesten Geschichten aus der Bibel. Sie ist selbstverständlich nicht nur für den ASB wichtig, sondern genau so grundlegend für unsere Diakonie und alle anderen Hilfsorganisationen. 

Sie sagt: Schau dich um und hilf den Menschen, die es nötig haben, ohne darüber nachzudenken, wer das ist, ob irgendetwas dagegen spricht zu helfen, ob es sich lohnt. Höre auf dein Herz! Martin Luther übersetzt die Gefühle des Samariters so wunderbar mit: und als er ihn, also den halb toten Mann am Straßenrand,  sah, jammerte es ihn. Es jammerte ihn, da steckt alles drin. 

Wenn ich mich nun hier in unserer Kirche umschaue, dann kann ich mir kaum vorstellen, dass irgendjemand von Ihnen so einfach an dem verletzten Menschen vorbeigegangen wäre. Ich sehe hier nur Menschen, die wissen, was Mitgefühl ist. Ganz davon abgesehen haben sich die beiden, die an dem Verletzten vorbeigegangen sind, nach heutigem Recht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht und wären bestraft worden. Wir sind schlicht und einfach gesetzlich verpflichtet, in Unglücks- und Notfällen zu helfen! Wir haben es heute ja auch ziemlich einfach, egal ob mit oder ohne Nächstenliebe, wir hätten das Handy genommen und die 112 gerufen.

Deshalb dachte ich bei der Vorbereitung: so großartig und wirksam diese Geschichte ist, ich mag Ihnen damit gar nicht kommen. Wir tun doch alles, was wir können, was sollen wir denn noch mehr tun. 

Wenn wir sagen, unsere Nächste oder unser Nächster ist jeder Mensch, dessen Elend wir sehen, dann stoßen wir außerdem sehr schnell an unsere Grenzen! Die Medien, ob Zeitung, Fernsehen, Radio oder die sozialen Medien, sind voll von Geschichten, die unser Mitleid herausfordern. Flüchtende aus Kriegsgebieten, hungernde Menschen in Dürregebieten, Nachbarn aus Ahlem, die ihre Gasrechnung nicht mehr bezahlen können. Und dann, besonders in der Weihnachtszeit, die ganzen Briefe mit großen, sehnsüchtigen Kindergesichtern. Und gleich daneben die HAZ-Weihnachtsaktion mit sehr arnrührenden Berichten von alltäglicher Not. Es stürmt unglaublich viel auf uns ein. Wer sich dem völlig ungeschützt aussetzt, ist überfordert, es liegt andauernd jemand am Straßenrand.

Da kommt mir schon der Gedanke: Lasst uns die Diakonie und die Diakonie Katastrophenhilfe und den ASB und das Rote Kreuz und alle anderen unterstützen – und gut ist. 

Aber vielleicht weichen wir damit ja der Geschichte aus!? Ich komme noch mal auf das Frage-Antwort-Duell zwischen dem Schriftgelehrten und Jesus zurück. Der Schriftgelehrte, also ein Fachmann für das Studium und die Auslegung der Heiligen Schrift, will Jesus ganz klar provozieren, er versuchte ihn, heißt es bei Luther, auf die Probe stellen heißt es in einer Übersetzung. Er redet ihn respektvoll mit „Meister“ an und stellt die Frage aller Fragen „Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe (also bekomme)?“. Jesus wurde kritisch beäugt, was lehrt er, was sagt er, welchen Anspruch hat er, verrät er den jüdischen Glauben?

Jesus gibt sich keine Blöße, sondern fragt einfach zurück: was steht denn im Gesetz, was sagt die Heilige Schrift? Und als der Schriftgelehrte mit dem Doppelgebot der Liebe antwortet, "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst", sagt Jesus ganz schlicht, als wären die beiden in der Schule in einer Religionsstunde, „Du hast recht geantwortet, tu das, so wirst du leben.“

Da frage ich nun: Was ist denn daran nun Besonderes, und warum brauchen wir Jesus, wenn seine Antwort dieselbe ist wie schon Jahrhunderte vorher, das sind ja Zitate aus den fünf Büchern Mose. Dass das Doppelgebot der Liebe entscheidend ist und dass man sich daran halten muss – das war die gängige Lehre.

Der Schriftgelehrte ärgert sich wohl, dass Jesus so völlig in der Tradition bleibt, er will sich für seine Frage rechtfertigen und hakt nach: „Wer ist denn mein Nächster?“ Damit verrät er sich, er versucht, Grenzen zu ziehen: Wer ist mein Nächster und wer nicht, wer zählt dazu, wer ist wert, dass ich mich um ihn kümmere und wer nicht!

Mit seiner Geschichte deckt Jesus auf, was dieses Denken für Folgen hat. Zwei Angestellte des Tempels, ein Priester und ein Levit, also fromme Leute, gehen an dem halb tot am Straßenrand Liegenden vorbei. Die dritte Person, ein Samaritaner, kümmert sich um den Verletzten. Ausgerechnet ein Gegner der Juden, einer der von der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen ist, zeigt Herz.

Und dann formuliert Jesus die Frage neu: „Wer von diesen dreien, fragt er den Schriftgelehrten, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?“ In der Basisbibel heißt es: „Wer von den dreien ist dem Mann, der von den Räubern überfalllen wurde, als Mitmensch begegnet?“

Damit bringt Jesus gleich zwei neue Perspektiven in die Situation: zum Einen überschreitet Jesus Grenzen. Es geht nicht nach Volk, nicht nach Religion und  Glauben, nicht nach Sympathie, nicht nach Gruppenzugehörigkeit, nach Krankenkasse oder was auch immer: Und zum Zweiten: Es geht darum, dass ich, dass wir zum Nächsten werden für den Menschen, der Hilfe braucht. Damit unterstreicht Jesus: Nächstenliebe ist etwas aktives und nicht nur mitfühlende Anteilnahme.

Es gibt keine Grenzen in der Liebe. Das ist, denke ich, auch der tiefe Sinn beim Doppelgebot der Liebe, also bei der Kombination von Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten. Denn in der Gottesliebe kann es keine Grenzen geben und das soll bei der Nächstenliebe auch so sein.

Liebe Gemeinde, ich habe anfangs gesagt, dass die Geschichte vom barmherzigen Samariter im Laufe der Jahrtausende bis heute eine große Wirkung hat. Ich denke, das liegt daran, dass wir in ihr spüren, welche Kraft die grenzenlose Liebe hat. Jesus steht dafür, dass die Grenzen zwischen Menschen fallen, wenn es darauf ankommt. Wer ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war – das ist die entscheidende Frage. Die Liebe ereignet sich immer wieder neu, sie will und soll durch uns jeden Tag neu konkret werden. Es geht nicht um unsere Leistung, nicht um wie viel und wie oft, nicht darum, ob wir die Welt retten, sondern um die konkrete Tat im hier und jetzt: „Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.“

Amen

Dr. Johannes Neukirch, Predigt im Gottesdienst am 13. Sonntag nach Trinitatis, 11.9.2022, in Ahlem  
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